Scherben bringen bekanntlich Glück. Genauso verhält es sich auch mit der Musik des Produzenten Sebastian Stehlik alias – richtig – Scherbe. Seit 2010 veröffentlicht der Wahldresdner auf Labels wie Big Bait, Uncanny Valley, Fourth Wave oder Kashual seine Version von hiphop-inspiriertem und tiefem House. Spätestens seit seiner “Jardin Du Midi EP” sind auch wir Fans und freuen uns umso mehr über unseren neuen, ganz speziellen und inzwischen zwanzigsten Ashorecast. Statt eines DJ-Sets gab uns Scherbe dafür eines seiner neuesten Live-Sets, aufgenommen bei einer “ziemlich spontanen und schrottigen Soliparty”, wie er selbst sagt. Dass das einstündige Set trotzdem alles andere als schrottig ausgefallen ist, dürfte klar sein. Außerdem beantwortet uns Scherbe einige Fragen zu seinem Umzug nach Dresden, wie ihn seine Heimat im Dreieck Karlsruhe-Heidelberg-Mannheim musikalisch prägte oder warum er momentan lieber live spielt als auflegt.
Sebastian, du kommst ursprünglich aus dem Dreieck Karlsruhe-Heidelberg-Mannheim. Was hat dich ins Tal der Ahnungslosen nach Dresden verschlagen und wie fandest du Anschluss zur lokalen Szene?
Ein gemeinsamer Schulfreund aus Karlsruhe, der 2005 in eine Art Kommune in die Dresdner Neustadt gezogen war, lockte mich zum Auflegen nach Dresden. Mir hat die offene und entspannte Atmo dort sofort zugesagt und 2009, nach Beendigung meines Studiums in Heidelberg, nutze ich die Gelegenheit durch einen Job (den ich inzwischen nicht mehr mache), dorthin zu ziehen. Nach unzähligen Partys lernte ich dann Anfang 2011 über einen bekannten Jacob Korn und Robert alias Cuthead kennen und kurze Zeit später auch Carl, Conrad und Albrecht, die glücklicherweise gerade Uncanny Valley gegründet hatten und meinen ersten Demos gegenüber nicht abgeneigt waren, so hat’s angefangen!
Was sind die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Szenen in deiner Heimat und in Dresden?
Obwohl auch Dresden eine eher gemütliche Stadt ist, geht hier einfach viel mehr als in der Beamtenstadt Karlsruhe oder dem „Studentenidyll“ Heidelberg. Das ist wohl auch der bewegten Geschichte Dresdens als anarchistischer Technocity in den Neunzigern geschuldet. Viele Leute machen hier tolle, selbstorganisierte Partys, Labels, Plattenläden – und es funktioniert meistens prächtig, ohne dass allzu viel Geld oder Neid mit im Spiel ist! Die Begeisterung, sowohl bei den alten Haudegen, als auch den jungen „Nachzüglern“ ist einfach größer, es gibt hier eine Menge unglaublich guter DJs und die behördlichen und polizeilichen Hürden für spontane Aktionen sind deutlich geringer als im Südwesten Deutschlands, auch wenn sich das in letzter Zeit bedauerlicherweise immer mehr ändert… die gute alte Gentrifizierung!
Du bist im ehemaligen Gebiet der amerikanischen Besatzungszone aufgewachsen. Inwieweit hat dich dieser Fakt musikalisch als Jugendlicher geprägt? Ist man leichter mit Musik wie Soul, Disco und Funk in Berührung gekommen als anderswo?
Definitiv, besonders wenn man wie ich in den Achtzigern direkt neben den Amerikanern aufgewachsen ist. Durch Radiosender wie AFN (American Forces Network) und die dicken Ghettoblaster und Autoanlagen der GIs konnte man gar nicht anders, als die neuesten Beats aufzusaugen. Besonders Pop, HipHop und Boogie, aber auch früher 707-House haben mich beeinflusst. Später, so ab 1998, war ich dann auch in den Amiclubs in Heidelberg unterwegs (ich weiß gar nicht, ob es die heute noch gibt), da man dort auch zu den übelsten Gangsta-Nummern gut abdancen konnte. Das ganze Rhein-Main-Neckar-Delta war ja wie eine Wiege amerikanisch geprägter elektronischer Musik damals, das hat auf viele abgefärbt, zum Beispiel die ganze Frankfurter Szene der späten Achtziger und frühen Neunziger und Labels wie Running Back, Philpot, Playhouse und so weiter.
In deiner Bio fallen unter anderem Namen wie Theo Parrish oder Pépé Bradock aber auch J Dilla und DJ Premier als große Einflüsse. Welche Künstler über den HipHop und House hinaus haben dich im Laufe der Jahre noch am meisten mit beeinflusst?
Anfangs waren es sicherlich die großen Pop-Momente der Achtziger, Drum-Machine-orientierte Produktionen von Madonna, Whitney Houston, Depeche Mode etc. Mitte der Neunziger bin ich dann schwer auf Ninja Tune und den ganzen frischen Drum’n’Bass-Kram abgefahren (Squarepusher, Krust, Source Direct, LTJ Bukem), sowie experimentelle, akusmatische Musik und Soundtracks à la Ennio Morricone. Aber auch immer wieder fetter NY SP-1200 HipHop wie Show & Ag und Mobb Deep, die Beats mussten einfach immer dick sein und grooven, das zieht sich bis heute durch meine Produktionen.
Gemeinsam mit Peter Clamat bildest du das Duo Citizen Funk. Wie unterscheidet sich eure Musik von deinen Solosachen und wie sieht eure Zusammenarbeit aus, jetzt wo du in DD wohnst? Wird es auch in Zukunft Musik und Auftritte mit und von euch geben?
Mit Niels verbindet mich eine lange Freundschaft und musikalische Partnerschaft. Wir haben gemeinsam um 1997 herum angefangen, Musik zu produzieren, sei es nun HipHop, housiges oder eher eklektischen, „akademischen“ Kram mit unserem Netlabel schoenermusic, welches wir von 1999 bis 2009 betrieben. Unsere Liebe gilt der House-Musik und dem HipHop, daher schwanken unsere Produktionen oft zwischen beiden Extremen, samplelastig, MPC-basiert und mit interessanten Samples bestückt. Seit ich in Dresden wohne, kommen wir natürlich nicht mehr so häufig zum Musikmachen, wir finden aber mindestens einmal im Jahr die Gelegenheit, uns zu einer Session in das Ferienhaus seiner Eltern ins Elsass zurückzuziehen. Auf Niels eigenem label Big Bait Records, das er 2009 startete, kamen auch schon gemeinsame Sachen auf Vinyl heraus.
Du machst auch Radio – wo und wann kann man deine Show hören und welches Konzept steckt dahinter?
Radio mache ich aktiv seit 2012 nicht mehr, ich habe aber in meiner Zeit in Heidelberg und Mannheim mehrere Jahre eine Musiksendung beim Freien Radio gemacht, wo ich mich mit afrikanisch beeinflusster elektronischer Musik auseinandergesetzt habe, ausserdem war ich von 2004 bis 2011 Teil der Redaktion der kulturell verspielten, philosophisch angehauchten Satiresendung „Sondersendung: Uneindeutige Tonale Situationen“ beim Freien Radio Karlsruhe.
Scherbe live im Café Neustadt in Prag (Februar 2014)
Du bist Teil des Multimedia-Projekts High Memory Area – was genau hat es damit auf sich und wo kann man eure Arbeiten sehen?
High Memory Area ist ein experimentelles Musikprojekt, welches ich sporadisch mit einem alten Freund, Marek Slipek aus Mannheim, der hauptberuflich Grafikdesigner ist, betreibe. Wir haben bereits zwei CDs im Eigenvertrieb veröffentlicht und frönen gerne gemeinsam unserer Leidenschaft für knacksigen, dubbigen Slowtechno, den wir in langen Sessions mithilfe unserer alten Ensoniq-Sampler kreieren und ab und zu auch live, mit origineller Videofootage von Marek versehen, performen.
Man kann dich sowohl als DJ als auch als Live-Act buchen. Machst du das eine lieber als das andere? Und wie hälst du die Balance zwischen beidem?
Momentan steht für mich das Livespielen an erster stelle, es passt einfach besser zu meinem täglichen Workflow im Studio und macht mir auch mehr Spaß, da man in relativ kurzer Zeit die seltsamsten Reaktionen beim Publikum hervorrufen kann und den „Scherbe“-Sound authentischer unter das Volk bringen kann.
Wenn auflegen, dann gerne in etwas entspannterer, kneipenlastigerer Atmosphäre und zurzeit am liebsten mit alten, discoid angehauchten 7-Inches querbeet und ohne Stilzwang, ich bin persönlich großer Fan dieses Formates, auch wenn es natürlich zum „clubtauglichen” Auflegen etwas „unerwünschter” ist. Ich habe letztes Jahr ja auch schon eine eigene 7-Inch auf dem Liebhaber-Label Kashual herausgebracht.
Dein Ashorecast ist kein DJ-Mix, sondern ein Mitschnitt eines deiner Live-Sets. Wo und wann ist es aufgenommen worden und wie hast du den Abend in Erinnerung?
Der Mitschnitt ist etwa vier Wochen alt und stammt von einer ziemlich spontanen und schrottigen Soliparty zugunsten des diesjährigen STFU-Festivals, welches vom ersten bis zum dritten August im alten Wettbüro stattfindet – wo ich übrigens selbst unter meinem zweiten Musik-Alias (P.A.)Bries ein halbstündiges MPC 500-only-Set zelebrieren werde. Ich bin tierisch froh mit der Aufnahme, denn oft klappt es nicht, man vergisst den Record-Button zu drücken oder alles ist übersteuert. Ein Liveset zeigt darüber hinaus immer gut, wo ich mich momentan musikalisch bewege, schon des öfteren haben es besonders gelungene Passagen meiner Livesets als Tracks auf eine Veröffentlichung geschafft.
Was für Releases stehen bei dir an und wo kann man dich bald spielen hören?
Ende Juni kam eine 12-Inch von mir auf dem spektakulär guten 4th Wave Label aus England heraus, auf die ich sehr stolz bin. Diese Woche kommt bereits meine zweite Solo-EP “Late Nite Safari” für mein „Haus“-Label Uncanny Valley auf den Markt, wie immer mit herrlichem Vinyl-Artwork von Carl Suspect und einer Menge musikalischer Junglewanderungen abseits abgetretener Deep-House-Pfade. Ab nächster Woche arbeite ich an meinem neuen Liveset, welches ich dann ab September/Oktober für neue Gigs fertig habe.
Scherbe kann man auf Soundcloud, Mixcloud oder Bandcamp folgen.
Fotos: Robert Arnold