Gestern Nachmittag: Ein lauter Jubelschrei geht durch die Oderberger Straße während ich mein Fahrrad vor dem Oye-Plattenladen abschließe. Es ist das erste WM-Spiel der deutschen Mannschaft gegen Portugal und im Oye begrüßt man mich mit den Worten: “Willkommen in der fußballfreien Zone!” So schön ruhig hier, denke ich, so komplett ohne ‘Schland und ‘Schloch, wunderbarer Ort. Nachdem ich zehn Ausgaben der neuen Groove an der Kasse abgegeben habe, bleibt genug Zeit, um endlich mal tiefer in den Regalen des Oyes zu diggen, das habe ich bislang nie gemacht, obwohl ich um den breit aufgestellten Backstock des Ladens weiß. Doch statt in den Bereichen House/Techno/Bass gehe ich lieber unter Folk/Soul/Jazz auf Trüffelsuche. Sechs oder sieben große Fächer, die es zu durchwühlen gilt, stehen vor mir, von draußen dringen erneut laute Ohhhs und Ahhhs herein, dann wieder Gejohle, es steht wohl 2:0. Ich setze die Kopfhörer auf und denke: Deutschland, halt’s Maul.
Drei Platten sollen es am Ende werden. Die erste: Orlandivo, ein Brazil-Klassiker von 1977, neuaufgelegt auf dem Rush Hour-Ableger Kindred Spirits. Lief mir früher schonmal über den Weg, war mir damals aber zu käsig, vielleicht auch zu gut gelaunt, doch heute macht es Klick. Die zweite: Mateo Solo Bien Se Lame von Eduardo Mateo aus Argentinien, erstmals veröffentlicht 1972, inzwischen aber zum Glück wiedererschienen. Devendra Banhart meint: “The most modern-sounding thing on the planet… almost like a new type of folk, like the acoustic version of bands like the Shins or Death Cab for Cutie. The songs are… embedded in indigenous, magical lore; utterly fresh and unique; it’s just straight-up futuristic.” Ich stimme ihm zu und freue mich über diese Neuentdeckung. Um eine solche handelt es sich dann schließlich auch bei der dritten Platte, die ich hiermit zu meiner Platte der Woche ernenne: Breakfast In America von Viktor Sjöberg.
2010 erschienen, ist dieses Album scheinbar komplett unter- und auch an mir vorbeigegangen. Nicht einmal der kurze Gastauftritt von Jens Lekman auf “A Million Bucks” konnte daran etwas ändern. Im Netz finden sich weder viele Reviews zu der Platte, noch Interviews oder großartige Infos über Viktor Sjöberg. Was ich weiß: Er war (oder ist) Teil der Gruppen Broken Concrete und Sonores sowie eines New Jazz Ensembles, stammt aus Göteborg, wurde 1981 geboren, veröffentlicht seit den späten Neunzigern Musik und rezensiert Biersorten gerne mit nur einem Satz. Außerdem war er viel mit Jens Lekman auf Tour und nahm während ebendieser Reisen unter anderem dieses Album auf. Die Aufnahmen begannen im Sommer 2006 in Schweden, fertig wurde die Platte schließlich Anfang 2009 in Kalifornien.
Viktor Sjöberg (Performance)
Diese Entschleunigung, das Sich-Zeit-Nehmen, ist auch in der Musik selbst zu hören. Lang gezogene Gitarrenakkorde und behutsame Pickings hallen ins Ferne, kehren zurück, schlenkern auf und ab. Dazu gesellen sich immer wieder Trompeten, Saxofone, Violinen, selbst ein Akkordion und eben die Stimme von Jens Lekman sind zu hören. Und Beats sowie Field Recordings von Städten, Parks oder Gesprächen auf der Straße. Trotz all dieser Zutaten bleibt Sjöbergs Musik ganz und gar minimal und feinfühlig. Im Oye verpasste man Breakfast In America die Labels “Singer Songwriter” und “Electronica”, bei Discogs läuft das Album unter “Electronic, Pop, Leftfield, Ambient, Downtempo und Neofolk”. Was auch immer es ist, bis nicht irgendein geschmackssicheres Reissue-Label auf die Idee kommt, Breakfast In America neu zu veröffentlichen, wird es wohl ein übersehenes Juwel bleiben.
Dann bezahle ich zufrieden meine drei Platten und fahre nach Hause während in den Straßen die vorerst letzten Jubelschreie und Tröten verhallen.