Denke ich an Jena, denke ich immer auch an Musik. An gute Partys und die Leute dahinter, die vielen großen und kleine Aha-Momente. Für einen davon sorgte 2009 Inannia, der im Eingangsbereich vom Haus (Leute in Jena wissen bescheid) die ganze Nacht lang die Gäste mit Ambient-Musik empfing und den verschwitzten Tänzern eine musikalische Auszeit bot. Ich wusste bis dahin nicht, dass DJ Hell auch Ambient macht, kannte das Frühwerk von Terre Thaemlitz nicht, und speicherte mir noch etliche weitere Tracks, Alben und Künstler in mein Handy ein. Erst vier Jahre später sollte ich mein erstes eigenes Ambient-Set spielen. Neben dem Auflegen ist Inannia auch unter dem Namen Toci als Grafiker unterwegs und spielt seit einiger Zeit als T-76 auch gerne mal Techno-Sets. Doch egal, ob mit oder ohne Four-to-the-Floor-Antrieb, seine Podcasts gehören ausgecheckt. Doch zuvor erzählt uns Inannia, welche drei Platten zuletzt den Weg in seine Sammlung fanden.
Mark Pritchard – Under The Sun – Warp Records (2016)
Als großer Warp-Fan der ersten Stunde entging mir natürlich nicht die neue LP vom Tausendsassa Mark Pritchard. Mir wurde gesagt, er hat so zirka 26 Synonyme, endlich nutzt er seinen Namen für ein Album. Mein erster Kontakt mit ihm liegt gefühlte 20 Jahre zurück, als er unter dem Alias Reload Tracks auf der ersten Evolution Label-Compilation für Warp veröffentlichte. Under The Sun ist wirklich ein schönes Roadmovie-Album geworden, so vielfältig in der Klangästhetik, und Stimmen, wie die von Thom Yorke und Beans runden die ganze Sahnetorte ab. Musik aus einer altertümlichen Welt, verfeinert mit elektronischen Nuancen und Reminiszenzen an frühere Warp-Alben – das ist Ambient im Jahre 2016 für mich. Ein ein kleiner Tipp, hört auch mal in das von ihm und Tom Middleton mittlerweile zeitlose Ambient-Album 76:14 von Global Communication rein.
Patrick Cowley & Jorge Socarras – Catholic – Dark Entries (2014)
Eine Perle, die vom versunkenen Boden am Meeresgrund aufgetaucht ist. Erzählt sie von einer Welt, voll mit Discosounds und Theaterperformance, zu einer Zeit, als man die Synthesizer erkundete.
Das Jahr 1973 – zwei Artists, die sich in San Francisco kennenlernten, jammten und einander liebten. Patrick Cowley studierte “Electronic Music” am San Francisco City College mit nur zwei weiteren Studenten in der Fachklasse. Jorge (Sänger von Indoor Life) und Patrick nahmen zu dieser Zeit Tracks auf und sahen sich 1979 erst wieder, als Patrick Cowley die alten Demos dann 1981 einem Labelmanager gab, der damit nicht so recht etwas anzufangen wusste. So lag lange Zeit das Catholic-Soundmaterial unberührt im Schubfach. Ein Freund transferierte für Jorge die Songs auf CD und zwischenzeitlich drehte New Yorks Clubszene zu Patricks Klassikern wie “Megatron Man” und “Menergy” durch. 1982 starb Patrick Cowley an AIDS. Lange Zeit später landeten die Demos auf den Tischen neugieriger Manager von Macro Music, die schließlich 2009 Catholic veröffentlichten. Gewisse Musik braucht halt ihre Zeit, um zu wirken.
Für mich persönlich spiegeln sich in allen Tracks eine Portion New Wave, Synth-Pop, Experimental und Disco Glamour wider. Musik, wie in einer Verfolgungsjagd, es klirrt und zischt, heulende Gitarren schlängeln sich um den Beat herum, Synthiemaschinen zwitschern im eiernden Rhythmus, dreckig und roh zugleich. Energie schillert überall hindurch, gebündelt zu einem Hi-NRG-Style, der nur selten auf den Floors dieser Welt läuft. The other side of Patrick Cowley und die treibende Kraft Jorge Socarras. Danke für das Re-Release.
µ-Ziq aka Mike Paradinas – RY30 Trax – Bandcamp Re-Release (1995)
Mike, auch er ist ein musikalischer Begleiter für mich seit nunmehr 20 Jahren. 40.000 Kopien verkaufte er vom ersten Album Tango N’ Vectif. Ich war ziemlich erstaunt, als er vor ein paar Tagen bisher unbekannte Tracks aus dem Jahre 1995 von seiner Festplatte auf Bandcamp schob. Die Sounds sind zu einer Zeit entstanden, als er mit Jake Slazenger Songskizzen für Warp Records vorbereitete. Alle Tracks sind sehr aufgeräumt, wenn man bedenkt, das er eine Beatstruktur auch mal komplett zerhäckselt. Die Sounds haben eine extreme Weite und verbreiten eine märchenhafte Stimmung, Erinnerungen an Computerspiele wie Monkey Island tauchen da im Kopf auf. Er läßt seinen Synthies “freien Lauf” und Anleihen zu späteren Drum’n’Bass-Tracks sind sehr deutlich zu erkennen. Besonders mag ich auch seine Bleeps, Clonks und die gewisse Verspultheit, die zum Teil auch frühere Rephlex-Platten zierte. Als alter Kumpel von Aphex Twin eigentlich kein Wunder.
Inannia ist weit mehr als nur einer der besten Ambient-DJs, die wir so kennen. Ebenso ist er Teil des Live-Projekts No Accident In Paradise, mischt bei dem Label Freude Am Tanzen mit und ist Mitbegründer von Rave Strikes Back. Zudem ist er unter dem Namen Toci als Grafiker unterwegs und spielt als T-76 auch gerne mal Techno-Sets.